Landschaftsmythologie

Seit Europa von Menschen besiedelt wurde, haben sich diese ihre Siedlungsplätze und die Standorte für die Durchführung von religiösen Praktiken in der Landschaft aussuchen müssen und können. Nicht jeder Ort eignet sich für die Jagd, den Pflanzenbau, die Durchführung eines Rituals, den Aufbau eines Zelts, einer Hütte, eines Hauses, einer Grabstätte oder einer Kirche.
Landschaft ist für Menschen prägend; Topografie und klimatische Zonen bestimmen die Ernährung, die sozialen Strukturen, spirituelle Vorstellungen, Gesundheit und Kultur. Mit der Entstehung des «globalen Dorfs» haben wir die Verbundenheit mit dem Land, der Landschaft und den sie bewohnenden Pflanzen, Tieren und Wesenheiten sowie dem dadurch entstehenden Wetter weitgehend verloren.
Es ist wohltuend, sich all dies zurückzuholen und die Verbindungen zu erforschen, die zwischen den Menschen und dem Land, der Erde, existiert haben und auch heute noch gefühlt werden können. Ein Wissenschaftszweig, die Landschaftsmythologie, befasst sich damit. Begründer der Landschaftsmythologie ist der Schweizer Kulturantrophologe Kurt Derungs. Ebenfalls eine Pionierin ist die deutsche Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth.
Göttner-Abendroth fordert die Leserinnen und Leser in ihrem Buch «Berggöttinnen der Alpen» dazu auf, selbst zu Forschenden zu werden. Als Wissenschaftlerin gibt sie uns einen Leitfaden zur Erforschung der Landschaft an die Hand, den ich hier in eigenen Worten zusammenfasse:
Begehen
Um eine Landschaft zu verstehen, ist es hilfreich, sich so oft wie möglich und unter verschiedensten Bedingungen und in verschiedenen Jahreszeiten darin aufzuhalten. Was sind ihre Besonderheiten? Welche Formen prägen die Landschaft? Welche Pflanzen und Tiere repräsentieren das Land, wo wurden Siedlungen angelegt, wie verlaufen die Gewässer, was ist bestimmend, wie fühle ich mich darin?
Heilige Hügel
Oft sind freistehende Hügel mit guter Aussicht durch Kirchen, Kapellen oder Burgen markiert. Die Besiedlung durch historische Bauten weist auf eine Weiterführung oder die Übernahme älterer Plätze hin. Erstreckt sich der sichtbare Horizont von Osten über Süden bis Westen, lässt sich hier die Bahn der Gestirne beobachten, was über Jahrtausende wichtig war.
Archäologie
Erkundigen wir uns nach der Geschichte eines Ortes, werden wir fast ausschliesslich auf die «erste urkundliche Erwähnung» verwiesen. Diese stammt meist aus kirchlichen Niederschriften, da Mönche die ersten Schriftkundigen waren und die Geschichte der «Landnahme» durch Klöster festhielten. Vorchristliche Spuren finden wir durch archäologische Relikte, oft bis zurück in die Jungsteinzeit, also bis gegen 6000 Jahre v. Chr. Sie belegen uralte Handelsrouten, Siedlungen und Kultplätze.
Namen
Wir sehen uns auch die Namen von Ortschaften, Fluren, Flüssen, Bergen an. Zu finden sind diese auf Landkarten, welche viele Details zeigen (zB. 1:25’000). Diese Namen sind oft sehr sprechend. Dabei sind sie dem Klang nach oft besser verständlich als nach der Schreibweise. Alte Frauenplätze können zu Marienplätzen umgewandelt sein. «Etymologie» ist die Erforschung der Herkunft von Wörtern und ihrer Bedeutung.
Kirchen
Die Bildsprache und Symbolik in Kirchen und Kapellen tradiert oft die lokalen Gegebenheiten, die bei der Christianisierung vorgefunden wurden. Maria übernimmt dann zum Beispiel Attribute einer weiblichen Gottheit, welche zuvor an diesem Platz verehrt wurde. In Skulpturen und Gemälden erscheinen die vorchristlichen Inhalte in kirchlichem Gewand aber leider oft mit verdrehtem Inhalt. Alte Festplätze wurden auch gerne dämonisiert und haben nun einen «Teufel» oder eine «Hexe» im Namen.
Sagen und Mythen
Zum Verständnis von Sagen, Legenden und Mythen ist es sehr wichtig, den Kern der Erzählung aus patriarchalen oder erzieherischen Verzerrungen und christlichen Überformungen herauszuschälen. Zudem können Inhalte verniedlicht, ins Gegenteil verkehrt, Personen dämonisiert oder lächerlich gemacht sein. Um herauszufinden, um was es wirklich geht, hilft es, die zentralen Elemente herauszuarbeiten und eine Erzählung über längere Zeit mit sich zu tragen. So lässt sich ein persönlicher Zugang finden.
Folklore
Lokale Traditionen können sehr alt sein. Bräuche, Lieder, textile Muster, Wandmalereien oder Volksfeste überliefern alte Anschauungen und beziehen sich meist auf den Jahreslauf und das Gedeihen der Lebewesen, von welchen die Lebensbedingungen der Menschen unmittelbar abhingen (und abhängen). Wie bei den Erzählungen ist es auch hier wichtig, die grundlegenden Motive zu erkennen.
Provinzen
Viele schwer zugängliche Gebiete wurden in kulturellen Übergangszeiten zu Rückzugsgebieten für (verfolgte) Minderheiten. Frühere Völker zogen sich vor Eroberern in abgelegene Täler, in Moore, auf Alpen oder in ausgedehnte Wälder zurück. In diesen Gegenden geschah die gesellschaftliche Entwicklung langsamer als an Durchgangsorten und in Städten. Da diese Landschaften sehr bestimmend sind, wurden sie in die Lebenswelt und die Spiritualität der Menschen einbezogen.
Rucksack packen und los!