Hohe Zeit im Reich der Holle

Ich suche den roten Platz in der Landschaft meiner Heimat.
Die Kapelle Dreibrunnen bei Will im Kanton St. Gallen. Viele PassantInnen, Kirchenbesuchende, eine Schulkasse, Autos und eine Baustelle. Ich setze mich in die Bänke, entschlossen, erst wieder zu gehen, wenn ich die Essenz des Platzes entdeckt habe.
Die Maria auf dem Hauptaltar ist sehr schön. Fliessend, weich. Aber sie steht in einem goldenen Himmel, es passt irgendwie nicht. Ansonsten aber dominiert in den Gemälden der Kirche braun und rot. Ich umrunde das Gebäude auf der Suche nach Hinweisen.
Eine mächtige «Blutbuche» mit dunkelroten Blättern steht, anstelle einer Linde, neben der Kapelle. Da sehe ich sie endlich, die grosse, rote Mutter Gottes, an der Aussenseite des Chors.
Ein Gemälde von 1742, es ist nach Osten und auf den Weiher ausgerichtet. In dreieckigem, roten Gewand steht die Madonna auf einer kuhhornförmigen Mondsichel, aus der Pflanzen wachsen und den Mantel verzieren. Ich bin richtig! Wie hatte ich sie jemals übersehen können?
Der rote Platz der Göttin der Geburt, des Lebens und der Lust. Aber wie bedrängt er ist. Lärmige Baustelle, trocken gelegte Moore, eingeengtes Ried, zurechtgebauter Weiher mit Verbotsschild hinter Zaun und Stacheldraht. In weiterer Umgebung Hauptstrasse, Autobahn, Industriequartier, Psychiatrie und Haftanstalt. Der Platz aber lässt sich nicht beirren. Es ist ein wunderbarer Ort.
Auf der alten Karte von 1864 sind drei Weiher eingezeichnet rund um die Erhöhung, auf der die Kapelle steht. Nach der Überlieferung holten Frauen hier in vorchristlicher Zeit die Seelen der Kinder aus dem Wasser. Es sind die Teiche der Frau Holle… Bis heute bitten Frauen hier um Hilfe für sich und ihre Kinder – Spuren davon finde ich neben dem eingezäunten Teich.
Ich sitze am Waldrand, sehe auf das kleine verbliebene Moor. Nehme mit Frau Holle Kontakt auf, erspüre ihr Jenseitsparadies. Sie erinnert mich daran, dass ich von da komme und also damit verbunden bin! das freut mich sehr. Ich singe und flechte Zöpfe aus Stroh und aus Mariengras, dem Süssgras, welches hier wächst. Nun bin ich angekommen.
Durch den dichtstehenden Wald, der mir wie Holles Unterwasserwelt erscheint an dem heissen, hellen Tag, geht es weiter zum „Bauch“ der Göttin. Ein länglicher, kleiner Hügel, um den ein Kreuzweg führt. Er wird und wurde also umrundet, eine ehrende, heilige Handlung. Oben auf dem Hügel ein einziges Brombeergestrüpp! Perfekt, da bin ich ungestört und errichte meine Mitte.
Gerne möchte ich, dass mein freua-Projekt wächst und gedeiht. Dafür habe ich aus Ton ein Kind modelliert. Es wird nochmals besungen und berasselt. Zusätzlich möchte ich die rote Göttin bitten, mir bei der Rückkehr zu einem weichen Herzen zu helfen. Dazu forme ich aus dem Lehm ein Herz.
Der Nachmittag vergeht, die Mücken stechen, es wird Zeit für den dritten Teil des Rituals. Denn das Herz soll sich im Holleteich auflösen und das Kind im Schutz der Göttin wachsen.
Zwischen dem Hügel und dem Teich, den ich so gerne befreien möchte, steht eine Schutzmantelmadonna aus den Fünfzigerjahren, Blumen und Kerzen sind hier deponiert. Das ist der Ort für mein „Kind“. Ich lege es einer der Frauen unter dem Mantel der Madonna in den Arm.
Die Bauarbeiter haben gerade Feierabend, als ich mein Herz in den Teich werfe und mich mit Gruss und Dank an das wunderschöne, rote Marienbild an der Aussenwand der Kapelle auf den Rückweg mache.

