Schon wieder loslassen?

Rückblick auf den Sommer – schon? Ernten – was genau? Loslassen – oh ja.
Eigentlich dauernd. Wenn alles Veränderung ist, muss auch stehts losgelassen werden.
Den Rückblick, den ich gerade ein weiteres Mal mache, geht auf das Leben, nicht auf den Sommer. Denn ich bin in der blauen Lebens-Zeit. Es gilt, nicht nur den Sommer dieses Jahres loslassen, sondern den Sommer meines Lebens. Die pure Kraft, die angewendet werden kann, wenn es nötig wird. Der Wille, der durch die Verzweiflung durchträgt. Die Reserven, die aufgeboten werden können, wenn es nötig wird. Die Gesundheit, die sich immer wieder herstellt, die Schönheit, die sich zurückschlafen lässt. Das war sie, die Lebensmitte. Hinter mir die unwissenden Jungen, vor mir die ebenfalls unwissenden Alten! Die Jungen brauchen mich nicht mehr, die Alten sind gestorben, und ich bin auf der Kippe. So long!
Ein schöner Herbsttag Ende September. Eine wunderbare Zeit, die ich immer sehr geliebt habe, in der ich meinen Geburtstag feiere und die ganze Fülle von Genuss und Vergänglichkeit spüre. Aber in den letzten Jahren plagt mich in diesen Tagen bereits die Angst vor der Kälte und der Dunkelheit. Der unendliche Winter, der hier in den Hügeln Ende Oktober mit den ersten Schneeflocken beginnt und erst Ende April wieder endet steht an.
Ich packe die blaue Seherin ein, ein Geschenk einer Freundin, Dankesgaben und die Karte. Heute möchte ich einen neuen Weg gehen, der in eine Schlucht herunterführt. Zuerst aber gilt es, die beiden Quellen in meiner Nähe zu ehren. Die eine entspringt mitten im Wald und speist den Teich auf unserem Land. Ich putze sie und schmücke sie mit Sonnenblumen und rotem Laub.
Die zweite Quelle ist magisch. Sie quillt direkt unter einem Baum hervor und umfliesst danach einen grossen Tuffstein, den sie selbst erschaffen hat. Baum, Stein, Quelle – von jeher verehrt. Die magischen Orte der drei Bethen, der dreifachen Göttin.
Sie liegt an einem wenig begangenen Weg, so dass ich sicher bin, dass niemand vorbeikommt. Putzen und schmücken, Kräfte rufen und singen. Was mache ich hier?
Ich mache, was Jahrzehntausende lang an solchen Orten gemacht wurde: mich mit der Erde verbinden, innehalten, danken. Ich setze mich auf den Tuffstein und zupfe die Blätter der halbverblühten Sonnenblumen ab, lege sie auf den Stein und lasse mit jedem Blatt etwas los. Kann ich es akzeptieren? Im Kopf schon. Kann ich es fühlen? Ich weiss nicht. Manchmal folgt das auch zu späterer Zeit.
Das Eichhörnchen ist da, schnattert und verbindet die drei Welten. Es wird Zeit weiterzugehen. Über die Wiese, über den Grat auf die andere Seite. Der Weg führt hinunter in ein wildes Tobel, den Bach verliere ich aus den Augen. Diesen sehe ich erst wieder, als ich unten im Dorf bin, wo die neuen Überbauungen dicht an den Wald und das Wasser gestellt werden. Das Wilde ist unbesiegbar.