Nebel, Jäger und Raben

Die von Pater Bonstetten niedergeschriebene St. Idda-Legende sagt, dass Iddas Höhle oder Hütte im Tobel «Rappenstein» stand. Ich finde den Flurnamen schweizerdeutsch auf der Karte unterhalb des Hörnlis, und da ist tatsächlich ein Felsband eingezeichnet.
An Allerheiligen möchte ich den Ort besuchen. Ich hoffe darauf, am «Rappestei» eine Höhle zu finden. Entlang der Nebelgrenze fahre ich mit dem Velo durch die Hügel. Sonne und Nebelfetzen wechseln sich ab, es ist wunderschön. Als ich in die Nähe des «Rappesteis» komme, erblicke ich am Strassenrand im Nebel einen Mann mit Hut und Gewehr. Hundegebell. Autos am Waldrand, wohin ich blicke. Jagd!
Sehr unangenehm. Gerade da, wo ich mein Fahrrad parke, rennt ein Reh aus dem Wald, sieht mich und kehrt wieder um in den von Hunden und Jägern wimmelnden Wald. Freude und innere Ruhe sind weg. Trotzdem will ich nicht umkehren. Ich folge dem Weg ins Tobel, dann geht’s queer durch den steilen Wald, bis ich die Felsformation gefunden habe.
Mich erwartet eine etwa zwanzig Meter hohe Felswand, die Nagelfluh bildet kegelförmige Türme. Ein eindrücklicher Ort. In der Mitte der Wand, auf halber Höhe gibt es eine Art Terrasse. Ich mache eine Pause, um mich einzustimmen und versuche dann, da hinaufzugelangen. Dabei sehe ich weiter oben in der Wand ich eine Höhle. Leider muss ich den Versuch hinaufzuklettern abbrechen, alles ist rutschig und die Nagelfluh instabil.
Vielleicht komme ich von oben her dazu. Ich umgehe die Fluh und finde oben am Abbruch die richtige Stelle. Es ist zu steil, ohne Sicherung komme ich hier nicht runter. Hundegebell und Motorenlärm, die Gegend voller Jäger, welche Iddas Tiere abschiessen. Ja, es geht heute um Leben, Sterben und Wiedergeburt. Aber mich stresst das.
Ich lege mich in die Herbstsonne, schaue hoch in das bereits ausgelichtete, goldene Laub einer Buche vor dem hellblauen Himmel. So vieles, das mich wütend oder traurig macht. Aber da ist auch dieser schützende Platz, der wunderschön ist und mich beherbergt. Ein grosser Rabenvogel fliegt aufgeschreckt vom Jagdrummel über den Baum. Zuhause schaue ich nach: Der Rapp ist ein Kolkrabe, «Rappestei» heisst also Rabenstein und die Raben gehören zu Idda von Toggenburg.
Ich bin mit der Absicht gekommen, mein Ahnin-Ritual hier abzuhalten. Aber es geht nicht. Nach einem kurzen innerlichen Zwiegespräch mit Idda, der Verkörperung von Leben, Tod und Wiedergeburt und der Bitte an sie, mich durch die dunkle Zeit zu begleiten, packe ich meine Sachen zusammen. Zwanzig Meter weiter laufe ich an einen Jäger heran, der mit geladenem Gewehr auf einem Klappstuhl sitzt, um das über den Grat flüchtende Wild zu erschiessen. Nichts wie weg hier! Das Ritual werde ich zuhause nachholen.

